“Fratello minore” su Süddeutsche Zeitung
Der Jüngste von dreien
Der italienische Autor Stefano Zangrando über seine Wiederentdeckung des Schriftstellers Peter Brasch.
Manchmal gelingt es gestreamten Literaturveranstaltungen, lässig die “neue Normalität” zu geben. Und manchmal werden sie das Gespensterhafte nicht los. Am Dienstagabend saß der Autor Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, im Italienischen Kulturinstitut in Berlin. Aus seiner Wohnung in Rovereto zugeschaltet war Stefano Zangrando, 1973 in Bozen geboren, in einer italienischsprachigen Familie aufgewachsen, Romancier, Essayist und Übersetzer, unter anderem von Peter Handke, Katja Lange-Müller, Peter Kurzeck und Ingo Schulze. Das Gespenstische kam durch den dritten Autor ins Spiel, Peter Brasch, geboren 1955 in Cottbus, gestorben im Juni 2001 in Berlin. Er sei ihm einmal begegnet, sagt Ingo Schulze, habe aber nicht mehr als eine schemenhafte Erinnerung. Zangrando ist Brasch nie begegnet, aber er hat ein Buch über ihn geschrieben. Es erschien im Original 2018 unter dem Titel “Fratello minore”, inzwischen auch auf Deutsch (Kleiner Bruder. Leben, Lieben und Werke des Peter B. Aus dem Italienischen von Michaela Heissenberger. Mit einem Vorwort von Ingo Schulze. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2020. 224 Seiten, 20 Euro). Kein Fitzelchen Anonymität entspringt der Chiffrierung des “Peter B.”, nur das Signal, ihn als literarische Figur zu lesen. Peter Brasch, der nicht nur in Italien so gut wie unbekannt ist, hat es Zangrando angetan. Bei Youtube ist er auf ihn gestoßen, in einem Schnipsel aus einer Fernsehdiskussion im Jahr 1991 über das Theater in Ost und West. Braschs sprechende Tiere erinnerten ihn an Filme von Fellini. Im Archiv der Akademie der Künste Berlin hat er ihm nachgespürt. Briefe zwischen Peter Brasch und seinem zehn Jahre älteren, berühmteren Bruder Thomas Brasch sind in das Buch hineinmontiert, Auszüge aus dem Roman “schön hausen” (1999), aus Gedichten und Märchen.
Die Frauen seines Lebens so fiktiv wie möglich, den Toten so tot wie möglich aussehen lassen
“Fratello minore” war Peter Brasch nur für Thomas Brasch, den Autor und Filmemacher, und Klaus Brasch (1950 – 1980), den Schauspieler. Für Marion Brasch, die den Roman “Ab jetzt ist Ruhe” über ihre Familie geschrieben hat, ist er der jüngste der älteren Brüder. In Zangandos Buch trägt eine Figur ihren Namen und weiß viel über Peter B. Die Familiengeschichte, Horst Brasch taucht auf, der Vater, Funktionär im Staatsapparat der DDR, der einer jüdischen Familie entstammte, aus dem Exil zurückgekehrt war und im August 1989 starb. Zangrando folgt den Lebensstationen von Peter Brasch, seinen Niederlagen gegen die Alkoholsucht. Doch einsträngiges Erzählen liegt ihm fern. Er wollte keinen Rechercheroman schreiben, der seinen Helden zum Leben erweckt. Er sieht in Peter B. eine Figur, die schon zu Lebzeiten stirbt und verschwindet, baut eine Bühne, auf der die Frauen aus dem Leben von Peter B. so fiktiv wie möglich aussehen und der Tote so tot wie möglich. Während das Zangrando-Ich durch die Schönhauser Allee läuft, tritt der Glöckner Gianluca Cardinale aus Peter B.’s Roman “schön hausen” auf, der wegen seiner plötzlichen Höhenangst seinen Dienst in einem kleinen Ort in Sizilien nicht mehr versehen kann. Peter Brasch war nie in Italien. Kaum war die Mauer gefallen, brach in der Komödie “Go Trabi go” eine Familie aus Sachsen auf den Spu ren Goethes in Richtung Rom und Neapel auf. Ingo Schulze ließ in der ersten seiner “Simple Storys” (1998) Renate Meurer von ihrer Busreise nach Süden im Februar 1990 erzählen. Diese Geschichte kommt in Zangrandos Buch vor. Die Geschichte der jüngeren italienischen Aufbrüche nach Deutschland und zumal Berlin, als Gegenüber der deutschen Italiensehnsucht, ist noch ungeschrieben. Zangrando müsste darin vorkommen.
Diese Sätze hätte ich gerne selber geschrieben, sagt Ingo Schulze, und zitiert
Im Winter 2000 kam er erstmals nach Berlin, kehrte immer wieder zurück, begegnete dem Toten als Gerücht, suchte in ihm den Schlüssel zu einer Erfahrung der DDR und der Neunzigerjahre, die er selbst nicht gemacht hatte. Diese Sätze hätte ich gerne selber geschrieben, sagt Ingo Schulze und zitiert, was in Zangrandos Buch Marion Brasch sagt: “Wir waren die, die das Ganze von innen her ändern wollten. Wir waren auch nicht in der Bürgerrechtsbewegung, wir gehörten nicht zu den Dissidenten im Scheinwerferlicht des Westens. Wir waren eine interne, weitverbreitete Opposition, die das Alte loswerden wollte, ohne sich der Marktwirtschaft in die Arme zu werfen. Wir sind die, die die offizielle Geschichtsschreibung vergessen will. Und nun tut man alles, um die letzten Spuren zu verwischen, die bezeugen, dass es uns gab.” Seine Wanderung durch die Schönhauser Allee Richtung Friedhof Weißensee unternimmt Zangrando voller Verachtung für die “sanierten, geleckten, teuren Gründerzeitbauten” der Gegenwart.
Von Lothar Müller
Il link all’articolo su Süddeutsche Zeitung: https://bit.ly/3uto15G